Zur Möglichkeit einer analogen Anwendung des § 10 Abs. 1 S. 1 AÜG und Abgrenzung freier Mitarbeit von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung – LAG Düsseldorf, Urt. v. 21. Juli 2015 – 3 Sa 6/15

Partner, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht, CMS Hasche Sigle, Köln

In der jüngeren Vergangenheit haben sich die Arbeitsgerichte vielfach mit den Rechtsfolgen eines Scheinwerk-/Scheindienstvertrags befassen müssen. Dabei ging es im Wesentlichen um die Frage, ob ein Arbeitsverhältnis zwischen dem eingesetzten Arbeitnehmer und dem Kundenunternehmen gem. § 10 Abs. 1 S. 1 AÜG fingiert wird (selbst wenn der Dienstleister über eine gültige Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis verfügt).

In einem dem LAG Düsseldorf vorliegenden Fall ging es um die Begründung eines Arbeitsverhältnisses zwischen dem Kunden und einem von dem beauftragten Dienstleister als Subunternehmer in der IT-Beratung eingeschalteten Soloselbständigen (Urt. v. 21. Juli 2015 – 3 Sa 6/15). Dieser behauptete, er sei wie ein Arbeitnehmer bei dem Kunden eingesetzt worden. Da der Dienstleister keine Erlaubnis nach § 1 Abs. 1 AÜG besitze, sei gem. § 10 Abs. 1 S. 1 AÜG ein Arbeitsverhältnis mit dem Einsatzunternehmen zu Stande gekommen.

Im Ergebnis wurde die erstinstanzliche klageabweisende Entscheidung – zu Recht – bestätigt.

Voraussetzung für die Anwendung der Vorschrift des § 10 Abs. 1 S. 1 AÜG sei – so das LAG Düsseldorf – ein Arbeitsverhältnis zwischen dem Verleiher und dem Entliehenen. Selbstständige könnten nicht als Zeitarbeitnehmer an Kunden überlassen werden (BAG v. 9. November 1994 – 7 AZR 217/94). Wenn die vertraglich vereinbarte Tätigkeit typologisch – wie vorliegend – sowohl in einem Arbeitsverhältnis als auch selbstständig erbracht werden könne und die tatsächliche Handhabung der Vertragsbeziehung nicht zwingend für ein Arbeitsverhältnis spreche, müssten sich die Vertragsparteien grundsätzlich an dem von ihnen gewählten Vertragstypus festhalten lassen (BAG v. 9. Juni 2010 – 5 AZR 332/09). Nach Maßgabe der höchstrichterlich entwickelten Grundsätze und den Umständen der tatsächlichen Abwicklung des Vertragsverhältnisses sei vorliegend nicht von einer abhängigen Beschäftigung, sondern von einer echten freien Mitarbeit auszugehen.

Die Rechtsfolge des § 10 Abs. 1 S. 1 AÜG könne nicht auf den Fall eines freien, aber wirtschaftlich abhängigen Mitarbeiters angewendet werden. Der Gesetzgeber habe zwar in einer Reihe von Vorschriften arbeitnehmerähnliche Personen Arbeitnehmern gleichgestellt (vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 3 ArbSchG, § 12 a TVG; § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AGG; § 2 S. 2 BUrlG; § 138 SGB IX). Eine solche Regelung sei im AÜG für den Bereich des freien/selbstständigen, aber wirtschaftlich abhängigen Mitarbeiters unterblieben.

Auch komme keine entsprechende Anwendung von § 10 Abs. 1 S. 1 AÜG in Betracht. Zur wortsinnübersteigenden Gesetzesanwendung durch eine Analogie bedürfe es einer besonderen Legitimation. Die analoge Anwendung einer Norm setze voraus, dass eine vom Gesetzgeber unbeabsichtigt gelassene Lücke vorliege und diese Planwidrigkeit aufgrund konkreter Umstände positiv festgestellt werden könne. Andernfalls könnte jedes Schweigen des Gesetzgebers – also der Normalfall, wenn er etwas nicht regeln wolle – als planwidrige Lücke aufgefasst und diese im Wege der Analogie von den Gerichten ausgefüllt werden. Eine entsprechende Gesetzesanwendung erfordere darüber hinaus, dass der gesetzlich ungeregelte Fall nach Maßgabe des Gleichheitssatzes und zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen nach der gleichen Rechtsfolge verlangt wie die gesetzessprachlich erfassten Fälle. Eine richterliche Rechtsfortbildung dürfe nicht dazu führen, dass ein Gericht seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setze. Nach Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG werde die Staatsgewalt vom Volk in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. Die Aufgabe der Rechtsprechung beschränke sich darauf, den vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck eines Gesetzes auch unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen oder eine planwidrige Regelungslücke mit den anerkannten Auslegungsmethoden zu füllen. Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den Wortlaut des Gesetzes hinten anstelle und sich über den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinwegsetze, greife dabei unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein (vgl. BAG v. 10. Dezember 2013 – 9 AZR 51/13).

Für eine entsprechende Anwendung der Rechtsfolge des § 10 Abs. 1 AÜG auf den Fall eines freien, aber wirtschaftlich abhängigen Mitarbeiters fehle es bereits an einer erkennbaren planwidrigen Regelungslücke. Der Begriff der arbeitnehmerähnlichen Person sei dem Gesetzgeber, wie sich aus der ausdrücklichen Gleichstellung in einer Reihe von Vorschriften (dazu s. o.) ergebe, bekannt. Wenn der wirtschaftlich abhängige freie Mitarbeiter im AÜG nicht aufgeführt werde, könne daraus nur der Schluss gezogen werden, dass eine arbeitnehmerähnliche Person nach dem Willen des Gesetzgebers nicht unter den Schutzbereich des Gesetzes fallen solle.

Kommentar: 

Spannend ist die Entscheidung nicht nur wegen der sehr ausführlichen Abgrenzung zwischen einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung und einer freien Mitarbeit im IT-Beratungsumfeld, sondern insbesondere vor dem Hintergrund, dass das LAG Düsseldorf die Fiktion eines Arbeitsverhältnisses entsprechend § 10 Abs. 1 AÜG für einen wirtschaftlich (aber nicht persönlich) abhängigen, im Ergebnis aber freien Mitarbeiter ablehnt. Eine planwidrige Regelungslücke besteht nicht; hätte der Gesetzgeber eine solche Rechtsfolge gewollt, hätte er dies im AÜG deutlich machen müssen, wie er dies in der Vergangenheit in zahlreichen anderen Gesetzen ausdrücklich bereits gemacht hat – diese Nachricht dürfte für im IT-Bereich tätige Unternehmen sowohl auf Auftragnehmer- als auch Auftraggeberseite gleichermaßen positiv aufgenommen werden.

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